Dass der Gebrauch muskelaufbauender Pharmaka im Spitzenbodybuilding seit über 60 Jahren eine Realität ist, wird heute selbst in den einschlägigen Fachmagazinen kaum noch geleugnet. Allerdings ist es in diesen Publikationen ebenso wie in den Seminaren populärer Bodybuilder weit verbreitet, die Bedeutung dieser Pharmaka herunterzuspielen und den Leistungsstand moderner Spitzenbodybuilder stattdessen mit deren vorgeblicher „herausragender Genetik“ zu erklären. Die perfide Demagogie dieser Argumentationsmuster zeigt sich darin, dass sich eine derartige Behauptung weder beweisen noch widerlegen lässt. Klar demagogisch ist es auch, die fundamentale Bedeutung muskelaufbauender Pharmaka für die Steigerung der Belastbarkeit während des Trainings und der Regenerationsfähigkeit zwischen den Trainingseinheiten bewusst oder unbewusst außen vor zu lassen. Denn die Einsicht, dass Bodybuilder unter dem Einfluss derartiger Substanzen länger, härter und häufiger trainieren können, führt zwangsläufig zu der Erkenntnis, dass die in zahlreichen Magazinen und Büchern veröffentlichten Trainingspläne nachweislicher Anabolikaanwender von Arnold Schwarzenegger über Mike Mentzer bis zurück zu Sergio Oliva oder selbst Larry Scott für Natural-Bodybuilder weitestgehend wertlos sind.
Weder die extreme Intensität eines „Heavy-Duty-Trainings“ nach Mike Mentzer ist für einen Natural-Bodybuilder auf Dauer ohne massive Übertrainingserscheinungen tolerierbar, noch eine Variante des seit den 1970er Jahren durch Joe Weider oder Arnold Schwarzenegger propagierten sogenannten Volumentrainings mit bis zu 30 Sätzen pro Muskelgruppe und bis zu zwölf Trainingseinheiten pro Woche. Leider neigen jedoch viele Natural-Athleten zu einer eher emotionalen als nüchtern-rationalen Betrachtung des Bodybuildings, mit der Folge, dass man den Zusammenhang zwischen muskelaufbauenden Pharmaka und Trainingsmethodik entweder übersieht oder aber „nicht wahr haben will“. Die Folgen sind oftmals massive Übertrainingserscheinungen und nachfolgend Resignation, Frustration oder sogar der Beginn einer Anabolika-Karriere.
Verschärft wird diese Problematik dadurch, dass die in zahlreichen Magazinen veröffentlichten Trainingspläne gewöhnlich selbst von den unter Pharmakaeinfluss stehenden Athleten nur in den letzten zehn bis fünfzehn Wochen vor einer Meisterschaft angewendet werden bzw. wurden, in einem Zeitraum also, in dem die Dosierung der missbräuchlich eingesetzten Pharmaka gewöhnlich Spitzenwerte erreicht. Hierzu ein Beispiel: Pete Grymkowski, ein Spitzenathlet aus der Zeit der sogenannten „Goldenen Ära des Bodybuildings“ in den 1970er-1980er Jahren, räumt in einer aktuellen, aber wenig bekannten Publikation die Anwendung von bis zu 10.000 Milligramm, also zehn Gramm eines anabolen Steroids PRO TAG während der Wettkampfvorbereitung ein!
Außerhalb der unmittelbaren Wettkampfvorbereitung trainieren jedoch selbst Spitzenbodybuilder wesentlich moderater, d.h. weniger hart, weniger häufig und weniger zeitintensiv. Hinzu kommt, dass zahlreiche veröffentlichte Trainingspläne nicht der Wahrheit entsprechen. Beispielsweise wies der kürzlich verstorbene frühere Mister Olympia Sergio Oliva vor einigen Jahren darauf hin, dass er nie so umfangreich trainiert habe, wie dies in populären „Muskelmagazinen“ behauptet wurde.
Welche konkreten Schlussfolgerungen ergeben sich aus all dem für Natural-Bodybuilder? Natürlich sind auch die Lebensumstände und genetisch bedingten Voraussetzungen von Natural-Bodybuildern unterschiedlich. Die vorliegenden wissenschaftlich erhobenen Daten sprechen jedoch dafür, dass etwa drei bis vier Trainingseinheiten pro Woche mit einer Dauer von ca. 45-90 Minuten und etwa 3-10 Sätzen pro Muskelgruppe als Richtwert angesehen werden können – je nachdem, ob ein Ganzkörpertraining oder eine Variante des Split-Trainings zur Anwendung kommt. Die Pausenzeiten zwischen den Sätzen können ca. 0,5 bis 2 Minuten betragen. Die Auswahl der Übungen sollte sich weniger an Vorbildern oder aktuellen, von einschlägigen Magazinen kolportierten Trainingstrends orientieren, sondern vielmehr an individuellen körperbaulichen Voraussetzungen. So profitieren Bodybuilder mit kurzen Oberarmen und voluminösem Oberkörper oft mehr von Kurzhantel- als von Langhantelbankdrücken, da die Langhantel im Gegensatz zu Kurzhanteln auf einem voluminösen Brustkasten eher zum Stillstand kommt als Kurzhanteln, die weiter abgesenkt werden können, was die Bewegungsamplitude vergrößert und somit die Effektivität der Übung erhöht.
Ebenso wie beim Training ist auch in Hinblick auf die Ernährung eine Differenzierung zwischen pharmakafreiem und pharmazeutisch unterstütztem Training sinnvoll. So werden Natural-Bodybuilder aufgrund ihrer vergleichsweise geringeren Trainingsbelastung und ihrer langsamer ablaufenden Regenerations- und Superkompensationsprozesse weder die Energie- noch die Proteinmengen benötigen, die im pharmazeutisch gestützten Spitzenbodybuilding üblich sind (bis zu vier Gramm Protein pro Kilogramm Körpergewicht und bis zu 8.000 Kilokalorien pro Tag). Als grober Richtwert können für Natural-Bodybuilder stattdessen 1,5 bis 2 Gramm Protein pro Kilogramm Körpergewicht genannt werden. Bezüglich der Gestaltung des sonstigen Ernährungsregimes können weitgehend die Grundsätze der DGE zur Anwendung kommen. Spezielle Nahrungsergänzungsmittel können unter bestimmten Bedingungen – z.B. bei veganer Ernährungsweise – durchaus sinnvoll sein, sind aber bei vernünftiger und durchdachter Ernährung nicht grundsätzlich erforderlich, um einen effektiven Muskelaufbau im Rahmen der von der Natur gesetzten Grenzen zu erreichen. Die von zahlreichen Werbeofferten in den einschlägigen Magazinen offen oder verdeckt transportierte Botschaft, es sei möglich, durch Nahrungsergänzungsmittel ähnliche Wirkungen zu erzielen wie durch den Einsatz von muskelaufbauenden Pharmaka, ist in diesem Zusammenhang als bewusste Irreführung von Verbrauchern einzustufen.
Dr. phil. Dr. disc. pol. Andreas Müller